Ralph Than's Site.

Afghanistan 1

 
Home
Main theme page
Über mich
Galerien
Links
Kontakt
Eine Referenz

 

HUMBOLDT – UNIVERSITÄT ZU BERLIN

Vorderasiatisches Institut     - Iranistik -

Kurs:         Ethnographie iranischsprachiger Völkerschaften

Lesender:   Dr. Lutz Rzehak

 

 

Vortrag:     „Paschtunwali – Ehren- und Verhaltenskodex der Paschtunen“ [*] 

Von Student Ralph Kühn. Sommersemester 1991.

Zur Transkription

 Aus technischen Gründen habe ich im laufenden Text auf die Setzung diakritischer Zeichen verzichtet[†] und versuchte, zu einer einheitlichen Schreibweise der Begriffe aus dem Paschto zu gelangen, indem ich die bereits durch andere Autoren mehr oder minder konsequent benutzte Transkription ins Englische verwendete.

 

 


[2]Afghanistan, aufgrund seiner geopolitischen Lage nicht selten Streitobjekt und Zankapfel zum Teil auch außerregionaler Mächte, befindet sich gegenwärtig in einer hochkomplizierten Situation der Auseinandersetzung von traditionell gewachsener Lebensweise und -kultur sowie entsprechenden sozio-ökonomischen und politischen Strukturen mit Institutionen, welche zum Teil seit längerem in diesem Land bestehen, die aber der afghanischen Gesellschaft, noch im Prozess der Nationenbildung begriffen, fremd sind und ihren Eigenheiten teilweise erheblich widersprechen, da sie ohne hinreichende Berücksichtigung der konkreten Besonderheiten in Afghanistan übernommen und etabliert worden waren.

 

Für das Verständnis von Verhalten und Handeln der einzelnen Bevölkerungsgruppen in diesem Konflikt macht es sich erforderlich, sich mit ihren Traditionen und Wertvorstellungen, ihrer Lebensweise und Kultur, ihrer Religion sowie ihren sozio-ökonomischen Lebensverhältnissen zu befassen.

 

Anliegen der vorliegenden Arbeit (der Wiedergabe des Inhaltes eines mündlichen Kurzreferates) soll das Eingehen auf einige Aspekte des Paschtunwali, des Ehren- und Verhaltenskodex der Paschtunen, welche die größte ethnische Gruppe in Afghanistan darstellen, sein und zu versuchen, seine Besonderheiten hervorzuheben.

 

[3]Der Begriff „Paschtunwali“

 

Die Paschtunen, ein durch die Afghanistan und Pakistan trennende Durand-Linie gespaltenes Volk, bilden mit ca. 6 bis 8 Millionen Menschen die größte ethnische Gruppe innerhalb Afghanistans.[1] Ihre Sprache, das Paschto, gehört zum ostiranischen Zweig der iranischen Sprachfamilie. Kultur und Lebensweise der Paschtunen zeichnen sich neben dem verbreiteten Selbstverständnis der Paschtunen als „echte Afghanen“[2] und der Bezeichnung als „wehrhaftes Staatsvolk“[3] durch Nicht-Afghanen durch einen besonderen Verhaltens- und Ehrenkodex, Paschtunwali, aus. Bei seiner Definierung stimmen die meisten Autoren darin überein, dass es sich hierbei im wesentlichen um ein umfassendes Gefüge ethisch-moralischer, rechtlicher und kultureller Verbindlichkeiten und traditioneller Lebensauffassungen handelt, deren Entwicklung und Manifestierung nicht zuletzt mit der islamischen Religion verknüpft sind. Nyrop und Seekins zitieren Anderson, welcher Paschtunwali mit „doing Pashtu“ umschreibt und unterstreichen dessen Wirkung als Fähigkeit zu Dominanz, zu Erhaltung und Verteidigung von Leib und Leben, Freiheit, Autonomie sowie nicht zuletzt von Familie und Eigentum.[4] Auch heben sie die große Bedeutung des Ehre-Begriffes sowie seiner strikten Beachtung durch alle Mitglieder der paschtunischen Stammesgesellschaft hervor.[5] Klimburg nennt Paschtunwali in Verbindung mit der Ratsversammlung jirgah ein Regulativ der paschtunischen Gemeinschaft.[6] Snoy verweist auf den Begriff der Ehre als „das höchste Rechtsgut eines Paschtunen“[7] und formuliert seinen Paschtunwali-Begriff als „Stammesrecht, … in erster Linie Ehrenkodex“[8] und betont die für die Paschtunen enorme Bedeutung der überlieferten legendären Genealogien, die seiner Ansicht nach die ideo[4]logische Basis für eine ethnische Einheit der Paschtunen, d. h. deren „Wir-Gefühl“ insgesamt, wobei „das Wir-Gefühl als Stammesmitglied … meist wesentlich intensiver ist, als das Wir-Gefühl, Paschtune zu sein“ ausgeprägt ist.[9]

Nyrop und Seekins betonen den engen Zusammenhang von „Moslem“ und „Paschtune“ als handelnde Person, bemerken jedoch, dass sich der jeweilige Handlungsträger mit der Bezeichnung als „Paschtune“ mehr identifiziert, zumal die Bezeichnung „Moslem“ hierin schon enthalten sei.[10] Katkow bewertet Paschtunwali als ein System sozialer Regulierung, als „Mittel der Selbstbestimmung und Lebenstätigkeit der paschtunischen Stämme, er ist ein wesentlicher - wenn nicht grundlegender - Teil der Weltanschauung der Paschtunen, Argument für die Begründung ihrer Lebensweise, er spielt eine wesentliche Rolle bei der Formierung der Psyche der heutigen Paschtunen.“[11]

Grünberg und Rachimow begreifen Paschtunwali als Ethik der paschtunischen Stammesgesellschaft, welche in Verbindung mit den Prinzipien des adab die Verhaltensetikette der Paschtunen prägt bzw. hervorbringt.[12]

 

Obwohl sich die oben angeführten Ansätze zur Begriffsbestimmung „Paschtunwali“ grundlegend nicht widersprechen, wird durch diese Auswahl ersichtlich, wie komplex und schwierig diese Problematik ist und die Wichtigkeit einer sachlichen Auseinandersetzung und Bewertung unterstrichen.

 

[5]Zum Inhalt von Paschtunwali[13]

 

„Die Bevölkerung ist trotz der im ganzen oligarchischen Gesellschaftsstruktur durchdrungen von einem unverkennbar demokratischen Geist. Dieser hat seine Wurzeln sowohl in der islamischen Religion als auch in den Stammesgesetzen. Vor Gott sind alle Menschen gleich, und von allen Stammesangehörigen wird brüderliches Verhalten untereinander erwartet. So sehr im täglichen Leben auch Ansehen bzw. Reichtum und Armut die Familien und Individuen trennen mögen, die Würde verlangt angemessenes Verhalten jedem gegenüber.“[14]

Snoy hat, denke ich, Anspruch und Wesen von Paschtunwali anschaulich umschrieben. Die Problematik „Ehre“, „Ehrerweisung“, „Ehrverteidigung“ sowie ein stark ausgeprägtes Empfinden für Gerechtigkeit, Verletzbarkeit der Würde und entsprechende Reaktionen ziehen sich wie ein roter Faden durch das gesamte Netzwerk der Prinzipien des Paschtunwali, von denen die für das allgemeine Verständnis wesentlichsten anschließend kurz dargestellt werden sollen.

Vorangestellt sei noch eine Bemerkung von Klimburg, die mir in diesem Zusammenhang notwendig und interessant erscheint. Er bezeichnet die Begriffsvorstellungen der Paschtunen betreffend Souveränität, Freiheit, Stolz und Würde sowie Ehre als „übersteigert“, verweist auf die hohen Anforderungen an Paschtunwali durch das ständige Ringen um soziales Prestige und Vormachtstellung, Wasserverteidigung und Grundbesitz sowie (im Falle der Ehrschändung) Sühne und Entschädigung, was nicht zuletzt eine außerordentlich hohe Wehrbereitschaft zur Folge habe.[15] Im wesentlichen unter diesem Aspekt sind die Ansprüche an die strikte Einhaltung der Prinzipien und Regeln des Paschtunwali und seine Verbindlichkeit für die Mitglieder der paschtunischen Stammesgemeinschaft zu betrachten und wird [6]wohl auch gleichzeitig seine besondere Bedeutung für Stabilität und Funktionieren dieser Gemeinschaft ersichtlich.

 

Ausgehend von Ehre und Würde als Grundpfeilern der Regeln von Paschtunwali lässt sich feststellen, dass nicht wenige von ihnen in engem Zusammenhang miteinander stehen, sich teilweise beeinflussen bzw. bedingen. Ungeeignet erscheint mir der Versuch, einer Wertung dieser Regeln nach ihrer angenommenen oder tatsächlichen Bedeutung in einer Rangfolge vorzunehmen. Es gilt zu verstehen, dass alle diese Prinzipien und Regeln, welche Paschtunwali ausmachen, nicht losgelöst voneinander wirken (können), gleichfalls ist auch der Einfluss der islamischen Religion allgegenwärtig.

 

Dies ist z. B. bei tura der Fall. Tura (wörtlich: Schwert) gilt unter ehrbaren Paschtunen als Ausdruck von Kampfgeist und Kampfbereitschaft, wenn es heißt, Freiheit und Stolz zu erhalten und zu verteidigen. Das gilt nicht nur für die Familie, Eigentum o. ä. Gleichzeitig ist hierin die Pflicht zur Teilnahme am heiligen Krieg, jihad, mit enthalten.

 

Das Gefühl und Bewusstsein der eigenen Würde, von Mut und Stolz beinhaltet der Begriff ghairat, was übersetzt bedeutet Selbstbewusstsein, Ehrgeiz, Mut und Beherztheit, Eifer, Fleiß und Bescheidenheit. Ghairat hat grundlegende Bedeutung nicht zuletzt bei der Bewertung des Charakters einer Person. Der Träger aller dieser vorzüglichen Eigenschaften, ghairatman, gilt als Idealbild eines Paschtunen, welches anzustreben ehrenvoll und lohnend ist. „Ghairat verallgemeinert somit alle Forderungen und Wertvorstellungen der paschtunischen Etikette.“[16]

 

Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stamm bzw. Klan wird mit nanga umschrieben (wörtlich: nang – die Ehre). In engem Zusammenhang mit tura gehören hierzu die Bereitschaft [7]und die Pflicht zur Verteidigung des Verbundes, dem man angehört. Nanga ist vor allem der Glaube an den Ur- bzw. Stammvater des jeweiligen Stammes oder Klans, wirkt so als ein die Einheit und Geschlossenheit des Kollektivs prägendes Moment, dient gleichzeitig als eine Unterscheidung von anderen. Es ist anzumerken, dass es keine einheitliche Genealogie gibt, die von allen paschtunischen Stämmen gleichermaßen anerkannt wird, jedoch die jeweils angenommene Genealogie eines der wesentlichsten Identifikationsinstrumente für den einzelnen wie für die Gemeinschaft ist. Nicht zuletzt ist nanga auch Ausdruck und Resultat der die paschtunische Stammesgemeinschaft prägenden patrilinearen Strukturen.

 

Eng verbunden damit ist das allgemeine Prinzip der Gleichheit (musawat / barabarwalay). Trotz unverkennbarer, mehr oder minder starker sozialer Differenzierung bis zur Gegenwart ist der Glaube an Brüderlichkeit und Gleichheit aller Paschtunen in diesen tief verwurzelt. Er gründet sich vor allem auf oben kurz erwähnte Genealogien, an deren Anfangspunkt (trotz folgender verschiedentlicher Unterschiede) der Überlieferung zufolge der sagenhafte Stammvater aller Paschtunen - Qais - steht. Das Prinzip der Gleichheit findet seine tagtägliche Anwendung u. a. in den Umgangsformen der Paschtunen miteinander, in deren Bezeugung der gegenseitigen Hochachtung, so z. B. in einem umfangreichen Katalog von Begrüßungsformeln und Höflichkeitsfloskeln, die jeweils sehr ernst und stets zu beachten sind. Gleichfalls Ausdruck des Gleichheitsprinzips ist z. B. die Wertschätzung von Bescheidenheit. Es ziemt sich nicht, in der Öffentlichkeit durch Andeutungen oder offenes Wort seine eigene Person in den Vordergrund zu drängen oder die eigene Würde über die [8]der anderen zu stellen.

 

Der Gleichheitsgrundsatz findet einen deutlichen Ausdruck in der traditionellen Stammesversammlung jirgah. Während dieser Versammlung, bei der den freien Männern Teilnahme- und Stimmrecht zustehen, werden Probleme, Anliegen und Streitfälle von allgemeiner Bedeutung für die Gemeinschaft beraten und entschieden. Die jirgah bildete sich in der Periode der Entwicklung der Stämme zu politischen Institutionen heraus. Jirgah kann bedeuten: a) Versammlung aller wehrfähigen Männer; b) Versammlung männlicher Paschtunen, die Land und Familie besitzen; Versammlung der Familienoberhäupter; d) Ältestenrat. Diese Versammlung ist keine ständige Einrichtung, sie wird im Bedarfsfalle anberaumt, und alle Teilnehmer besitzen gleiche Rechte und gleiche Stimme. Es wird dabei so lange beraten und verhandelt, bis eine Einigung aller Teilnehmer erreicht ist, ohne dass eine Abstimmung stattfindet. Vertrauen ist dabei ein wichtiges Moment. Das erzielte Resultat wird von allen Teilnehmern als verbindlich akzeptiert, wobei es gilt, sich auch trotz u. U. wieder aufkommender Zweifel dem Beschluss zu beugen. Verstöße gegen einen Beschluss werden entsprechend den Regeln von Paschtunwali geahndet. Es ist festzustellen, dass infolge sozialer Differenzierung sich auch die jirgah betreffend Veränderungen abspielen. „Letztlich setzen sich die Einflussreichen durch, diejenigen die eine Gefolgschaft haben. Eine Gefolgschaft gewinnt man dadurch, dass man alle von Paschtunwali geforderten Tugenden entfaltet, nicht zuletzt Gastlichkeit und Gastfreundschaft.“[17]

Gastfreundschaft und Freigiebigkeit sind hoch angesehene Eigenschaften eines ehrbaren Paschtunen; es ist vor allem eine Frage der eigenen Würde und Ehre, die man seinem Gast erweist, wenn man ihm gern und ehrlich dient und beschützt vor [9]jedwedem Unbill.

 

Melmastija (melmastya; auch: melmapalena), die Gastfreundschaft, ist ein recht weit gehendes Gastrecht, beginnend mit der Begrüßung und Beköstigung des Gastes, dem Anbieten eines Nachtlagers bis hin zur Verteidigung des Gastes gegen etwaige Gegner. Dabei werden durch den Hausherrn alle verfügbaren Mittel aufgeboten (was u. U. auch zum Ruin bzw. zu Verschuldung führen kann). Gastfreundschaft gilt als Beweis für die Großherzigkeit und die Freigiebigkeit des Hausherrn, welcher hierdurch gesellschaftliche Anerkennung erwerben kann. Gleichzeitig können auf diese Weise gewisse Klientelverhältnisse geschaffen werden, was einen bestimmten Einfluss auf andere Mitglieder des Stammes bzw. Klans oder Ortsbewohner ermöglicht. In vielen paschtunischen Dörfern gibt es Gemeinde- oder Gästehäuser (hujra), die, einst hervorgegangen aus den Treffpunkten der Männer des jeweiligen Dorfes, Reisenden sowie Gästen aus benachbarten Orten zu jeder Zeit offen stehen. Hujra ist oft jener Ort, in welchem Einflussreiche ihre Gefolgschaft bewirten und Meinungen gebildet werden, welche von Fall zu Fall durchaus während einer jirgah zum Tragen kommen können.

 

Verbunden mit melmastija und als eine Möglichkeit ihrer Erweiterung kann badraga (Begleitung) betrachtet werden. Es handelt sich dabei um eine Schutzbegleitung, die z. B. dem Bewohner eines Dorfes an einer Siedlung oder auf dazugehörigem Gebiet, mit deren Bewohnern er oder sein Dorf in Streit liegen bzw. verfeindet sind, vorbei durch Dritte aus einem unbeteiligten (neutralen) Ort gewährt wird. Es gilt als äußerst schändlich, einen solcherart begleiteten Reisenden anzugreifen und führt zwangsweise zu erneuter Feindschaft.

 

Einen recht umfassenden Regelkodex stellt nanawati (wörtlich von: hereinkommen) dar. Es ist zum einen Asylgewäh[10]rung, zum anderen Möglichkeit des Ausdrucks von Versöhnungsbereitschaft bzw. der Konfliktbeilegung. Der Unterlegene in einem Streit o. ä. ersucht den ursprünglichen Gegner um Schutz bzw. Asyl, bietet hiermit seine Unterwerfung an, bittet um Begnadigung und Verzeihung und kann zum Gefolgsmann des Überlegenen werden. Eine Verweigerung des Ersuchens um Verzeihung in dieser Form durch Überlegenen gilt als einen Verletzung der Regeln von Paschtunwali und somit als unehrenhaft. Da der Unterlegene mit seiner Bitte um Verzeihung und Begnadigung seine Ehre faktisch völlig preisgibt, kommt nanawati in der Regel nur bei Konflikten zwischen sozial Ungleichen zur Anwendung. Dies schafft dem Überlegenen eine weitere Möglichkeit, verlässliche Klientelverhältnisse auf- und seine soziale Vormachtstellung auszubauen. Je höher jedoch der soziale Status der Beteiligten eines Konflikts ist, desto geringer ist in der Regel die Bereitschaft zu solchen Akten der Versöhnung, was wohl vor allem mit dem Prestigedenken der Bereffenden zu erklären ist (es sei daran erinnert, dass die Ehre das höchste Rechtsgut eines Paschtunen darstellt – s. vorn: „Zum Begriff ‚Paschtunwali’“).

Vergehen bzw. Verbrechen werden, unabhängig von Umfang und Tatmotiv auf Grundlage des Stammesrechts geahndet. Die schwerwiegendsten Verbrechen überhaupt sind der Ehebruch (mit der Todesstrafe als Folge), der Mord an einem Freien sowie (bewusste oder unbewusste) Missachtung der Ehre eines freien Paschtunen, z. B… durch die Wegnahme eines Gewehrs. Schwere Verbrechen können zum Teil ausgedehnte Blutrachefehden, welche mitunter auf nachfolgende Generationen übertragen werden können, zur Folge haben. Diese können durch Kampf (vor allem nach Mord), durch Wiedergutmachung (Wergeldzahlung) oder u. U. das bereits genannte nanawati beigelegt bzw. beendet werden. Hierbei bestehen gewisse Regeln, die von Stamm zu Stamm variieren können.

[11]Grundlage für Wiedergutmachungen ist das Prinzip badal (ursprünglich: Ersatz, Ersetzung), welches sowohl die Dankbarkeit und Belohnung für erhaltenes Gutes als auch die Vergeltung für widerfahrenes Böses (also zugefügten Schaden oder Schmerz bzw. eine Ehrschändung) beinhaltet. Auch dieses Prinzip folgt aus dem Begriff der Würde und Ehre der Paschtunen, welcher es verbietet, anderen etwas schuldig zu bleiben, sowohl im Guten als auch im Schlechten. Viele Autoren geben badal in der Regel mit Blutrache wieder, wobei sich der Begriff Blutrache (wörtlich: por) von Schuldigkeit, Schuld (im Sinne einer Pflicht) herleitet. Bei Feindseligkeiten zwischen Personen, Familien etc. (badi) gilt der Grundsatz, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, wobei hier die weitere Bedeutung von badal im Sinne von „Äquivalent“ deutlich wird. Die Nichtdurchführung von por wird allgemein als Schwäche gewertet und führt wiederum zur Schädigung des Rufs und der Ehre der betreffenden Person bzw. Familie o. ä. Neben körperlichen Schäden oder Schmerz gilt es weiterhin, entstandenen moralischen Schaden wieder gut zumachen. D. h., das Opfer hat das Recht, Zahlungen (sharm; „Zahlung für Blut“: khun, khunbaha) zu erhalten, womit schließlich badal erfüllt wäre. Laut Klimburg umfasst ein khun meist zwei bis drei junge Mädchen bzw. ihren „Wert“ in Form von Geld oder Naturalien.[18] Der Umfang der zu leistenden Zahlungen richtet sich nach der Schwere des Schadens und der sozialen Stellungen des Geschädigten.

 

Eine besondere Rolle für das Individuum haben als Kern des sozialen Gefüges innerhalb der paschtunischen Stammesgesellschaft die Familie bzw. Großfamilie inne. Die Familie ist Hauptkriterium für den sozialen Rang der einzelnen Person und stellt eine Form der Schutzmöglichkeit vor der Umwelt dar. Wichtigstes Symbol für die Ehre der Familie und des (Ehe-)[12]Mannes ist die Frau. Es ist daher die höchste Pflicht eines Mannes, die Ehre seiner Familie zu bewahren, indem er die Würde und Unantastbarkeit seiner Frau schützt und verteidigt. Die Position der Frau in der paschtunischen Gesellschaft sowie das Verhältnis zwischen Frau und Mann im familiären Umgang miteinander bestimmt das Prinzip namus (wörtlich: Reputation, teurer Name, Ehre sowie weibliche Familienhälfte) in Zusammenhang mit den Vorschriften der islamischen Religion. Es ist die Ehre der Frau, welche das Bestreben des Mannes bedingt, sie weitestgehend vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Seinen Einfluss und seine Überlegenheit und Kraft über sie nicht öffentlich darstellend, verteidigt er ihre Ehre und sorgt dafür, dass dies von allen Außenstehenden anerkannt wird. Ärmere Männer leben mit ihren Ehefrauen gemeinsam in einer Behausung, wobei ein Teil, bestimmt für die Frau, abgetrennt ist. Die Wohlhabenden errichten ihren Ehrefrauen spezielle Häuser bzw. Räume neben den eigenen. Für Personen, die nicht zum Familienkreis gehören, ist einzig und allein der Mann Kontaktperson.

Die Verehrung der Frau ist trotz ihrer relativen Abgeschiedenheit so groß, dass auf ihre Bitte hin Blutvergießen und Zwistigkeiten zwischen Familienklans unverzüglich zu beenden sind.

Die Frau leitet alle vorgehenden Haushaltsarbeiten, ist Autoritätsperson für die weiteren weiblichen Familienmitglieder und wichtigste Beraterin bei der Suche nach einer Braut bzw. einem Bräutigam für die heiratsfähigen Kinder. Bei allem Schutz und der Verehrung, die die Frau durchaus genießt, kann jedoch keinesfalls von einer Gleichberechtigung von Mann und Frau in der paschtunischen Gesellschaft gesprochen werden. Die Funktion des Familienoberhauptes, politisches Mitspracherecht auf der jirgah, die Erbrechte über Grund und Boden u. ä. liegen fest in den Händen des [13] Mannes.

 

Ebenfalls nicht unerheblich für das tägliche Leben der Paschtunen ist das Prinzip merane (merana), wörtlich: Kühnheit, Mut, Tapferkeit, welches Willenskraft und Standhaftigkeit als wichtige Eigenschaften einer Persönlichkeit hervorhebt. Diese Anforderung an den Charakter betrifft nicht nur den Mann als Oberhaupt und Beschützer der Familie sondern auch die Frauen und Kinder. Merane verlangt von jedem Paschtunen, beliebige Schwierigkeiten unter Aufbietung aller verfügbaren physischen und sonstigen Fähigkeiten und Mittel zu überwinden. Der Ursprung dieses Prinzips ist sicher im Leben unter den zum Teil extrem schwierigen geografisch-klimatischen Bedingungen der Hindukusch-Region zu suchen, wo ohne Geschicklichkeit, Klugheit, Kraft und Einsatzwillen ein Überleben kaum denkbar erscheint.

 

Wie vielen anderen Ethnien ist auch den Paschtunen das Prinzip der Achtung des Älteren wichtig und teuer. Es schreibt ein ehrenvolles Verhalten letzteren gegenüber vor und erstreckt sich zum einen auf die Ältesten und Weisen, zum anderen beeinflusst es die Beziehungen zwischen und Söhnen, zwischen Brüdern etc. Beispielhaft ist das besonders ehrerbietige Verhalten gegenüber den khan und malik als traditionellen Führern. Die Ehrwürdigkeit der Alten und Weisen beruht im wesentlichen auf ihrem umfangreichen Erfahrungsschatz, welchen sie den Jüngeren vermitteln und nicht zuletzt auf ihrer Position als Oberhaupt der Familie, des Kerns des Sozialgefüges der Stammesgemeinschaft. Hierarchische Strukturen werden auch hier sichtbar.

 

Die dargestellten Prinzipien von Paschtunwali zeigen, wie an anderer Stelle bereits angemerkt, dass sie im wesentlichen darauf ausgerichtet sind, im Zusammenhang mit aus der islamischen Religion resultierenden Vorschriften das soziale Leben der Mitglieder [14]der paschtunischen Stammesgemeinschaft zu regulieren, nicht zuletzt, um dieses Leben und diese Gemeinschaft zu tragen und auch in Ausnahmesituationen aufrechtzuerhalten.

Es bleibt allerdings abzuwarten und einer zukünftigen umfangreichen Analyse vorbehalten zu klären, inwieweit Paschtunwali durch die Wirren des afghanischen Bürgerkrieges, der leider noch immer sinnlos Blut vergießt, Veränderungen unterworfen wurde bzw. wird und ob diese sich unter Umständen in dieser oder jener Form manifestieren werden.


 



[*] 1:1-Abschrift der maschinenschriftlichen studentischen Jahresarbeit bei gleichzeitiger, stillschweigender Korrektur von Tipp- bzw. grammatikalisch-orthographischen Fehlern (inkl. Anpassung an die neue deutsche Rechtschreibung) durch den Verfasser. Die ursprünglichen Seitenangaben wurden in tiefgestellten Klammern vermerkt. Keine inhaltliche Aktualisierung oder Änderung am Originaltext.

[†] Für das Literaturverzeichnis wurde dies bei der vorliegenden Abschrift korrigiert.



 

[15]Anmerkungen und Quellen

 Zu den Angaben über die Bevölkerung Afghanistans und die einzelnen ethnischen Gruppen:

[1] Orywal, Erwin (Hrsg.): Die ethnischen Gruppen Afghanistans. Fallstudien zu Gruppenidentität und Intergruppenbeziehungen. (Beihefte zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients, Reihe B, Nr. 70) Wiesbaden 1986; S. 19 ff.

[2] Klimburg, Max: Afghanistan. Das Land im historischen Spannungsfeld Mittelasiens. Wien 1966; S. 105.

Klimburg verweist auch darauf, dass sich mit der Bezeichnung „Afghane“ u. U. ein höheres Sozialprestige verbindet, so z. B. im Raum Peschawar sowie bei den stolzen Yusufzai (a. a. O.; S. 114) 

[3] Klimburg, Max: a. a. O.; S. 110.

[4] Nyrop, Richard F.; Seekins, Donald M.: Afghanistan - a country study. Washington 1986; S. 108.

[5] Ebenda.

[6] Klimburg, Max: a. a. O.; S. 120.

[7] Snoy, Peter: Die ethnischen Gruppen. - IN: Bucherer-Dietschi, Paul; Jentsch, Christoph (Hrsg.): Afghanistan. Ländermonographie. (Schriftenreihe der Bibliotheka Afghanica No. 4) Liestal 1986; S. 143.

[8] Ebenda.

[9] Snoy, Peter: a. a. O.; S. 125.

[10] Nyrop, Richard F.; Seekins, Donald M.: a. a. O.; S. 108.

[11] Katkov, I. J.: Social’niye aspekty plemennoj struktury puštunov. - IN: Afganistan: istorija, ekonomika, kul’tura. Sbornik statej. Moskva 1989; S. 39.

[12] Grjunberg, A. L.; Rachimov, R. R.: Ėtiket u narodov Afganistana. - [16]IN: Ėtiket u narodov perednej Azii. Sbornik statej. Moskva 1988; S. 190.

[13] Die Angaben zu den Prinzipien von Paschtunwali sind zusammengefasst nach:

Grjunberg, A. L.; Rachimov, R. R.: a. a. O.; S. 189 ff.

Katkov, I. J.: a. a. O.; S. 39-57.

Klimburg, Max: a. a. O.; S. 105-123.

Rzehak, Lutz: Kodeks česti u puštunov. - IN: Afganistan: istorija, ekonomika, kul’tura. Sbornik statej. Moskva 1989; S. 58-72.

Snesarev, A. J.: Avganistan. Moskva 1921; S. 98-112.

Snoy, Peter: a. a. O.; S. 140 ff.

[14] Snoy, Peter: a. a. O.; S. 158.

[15] Klimburg, Max: a. a. O.; S. 115.

[16] Rzehak, Lutz: a. a. O.; S. 71.

[17] Snoy, Peter: a. a. O.; S. 143

[18] Klimburg, Max: a. a. O.; S. 121.

 

Weiterhin verwendete Hilfsmittel

 

Aslanov, M. G.: Puštu-russkij slovar’. Moskva 1985.

Grötzbach, Erwin (Hrsg.): Afghanistan : eine geographische Landeskunde. (Wissenschaftliche Länderkunden; Bd. 37). Darmstadt 1990.

Heine Peter: Ethnologie des Nahen und Mittleren Ostens. Eine Einführung. Berlin 1989.

Lebedev, K. A.; Jacevič, L. S.; Kalinina, S. M.: Russko-puštu slovar’. Moskva 1983.


 

Zum Seitenanfang / Back to top.

Home | Civil Society in Central Asia | Hochschulwesen in Zentralasien | Afghanistan 1 | Afghanistan 2 | Afghanistan 3 | Afghanistan 4 | Afghanistan 5 | Afghanistan 6 | Kazakhstan 1 | Kazakhstan 2 | Pakistan (NWFP) | Tajikistan | Turkmenistan | Uzbekistan 1 | Uzbekistan 2 | Uzbekistan 3 | Uzbekistan 4 | Uzbekistan 5 | Uzbekistan 6 | Uzbekistan 7 | Uzbekistan 8 | Lyrics